Die Kersting-Familie in Wipperfürth

Elektrisches Licht aus der ältesten Stadt des Bergischen Landes

Der Wirtschaftsstandort Wipperfürth ist eng mit dem Namen Radium verknüpft. Gut 100 Jahre lang waren die Radium-Werke der größte Arbeitgeber der Stadt und prägten die Industrialisierung der Region ebenso wie die soziale Entwicklung ihrer Heimatgemeinde.
Anfang des 20. Jahrhunderts kam das elektrische Licht nachWipperfürth:
1901
erstrahlte hier erstmals eine elektrische Straßenbeleuchtung und seit
1902
produzierte Richard Drecker in der Stadt die ersten Glühlampen. Der
Unternehmer hatte ursprünglich eine Spinnerei betrieben. Als sein Betrieb durch einen Großbrand völlig zerstört wurde, richtete Drecker in einer von den Flammen verschonten Baracke die »Elektrische Glühlampen-Fabrik Wipperfürth« ein und begann mit der Herstellung von kleinen Glühlampen.
Bereits zwei Jahre später gründete Drecker mit weiteren fünf Gesellschaftern eine neue Firma für – laut Gesellschaftervertrag von 1904 – »Fabrikation und Vertrieb von Glühlampen und elektrischen Artikeln aller Art«. Zum Geschäftsführer dieser »Radium-Elektrizitäts-Gesellschaft m.b.H.« wurde ein fachkundiger Techniker aus dem Westfälischen bestellt: Richard Kersting

Richard_KerstingRichard Kersting hatte in Dortmund Hörde elektrische Beleuchtungs- und Kraftübertragungsanlagen hergestellt und vertrieben. Zu seinen Produkten zählten unterirdische Grubenbeleuchtungen, Dynamomaschinen, Elektromotoren und Fernsprech- und Telegrafenanlagen. Als Geschäftsführer der Radium-Gesellschaft inWipperfürth sorgte Kersting zunächst dafür, dass ausreichende Gebäude für Produktion und Verwaltung errichtet wurden.
Daneben drängte er darauf, dass das Unternehmen eine eigene Strom- und Gasversorgung erhielt, um von fremden Energielieferanten unabhängig zu werden.

Kersting war nicht alleine ins Bergische Land gekommen. Seine Frau Alma und sein ältester Sohn Eugen traten ebenfalls in die Radium-Werke ein.
Alma Kersting erhielt 1906 Prokura und ab
1907Eugen_Kersting
arbeitete auch Eugen Kersting für das Unternehmen. Drei Jahre später beschloss der Aufsichtsrat, dass Eugen im Falle des Todes seines Vaters Richard dessen Nachfolge als Geschäftsführer antreten sollte. Mehr als ein halbes Jahrhundert sollte die Familie Kersting die Radium-Werke prägen.

Der Name Kersting stand dabei nicht nur für die technische und kaufmännische Seite des Unternehmens. Mit wachsenden Produktions- undVerkaufszahlen sowie einer steigenden Mitarbeiterzahl wurden auch die Sozialleistungen des Betriebes ausgebaut. Einen wichtigen Schritt für die gesundheitliche und wirtschaftliche Absicherung seiner Arbeiter und Angestellten vollzog Richard Kersting, als er
1908
eine eigene Betriebskrankenkasse gründete – einige Jahre vor der endgültigen Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1911.
1917
starb Richard Kersting und Eugen trat das Erbe seines Vaters an. Als Geschäftsführer widmete er sich unter anderem einem Pionierprojekt in Wipperfürth: dem Bau einer Badeanstalt.
Radium investierte in ein neues Turbinenhaus und ließ dieWupper an einem Wehr stauen, um dasWasser zur Stromerzeugung zu nutzen. So entstand nicht nur für die Belegschaft, sondern für die ganze Stadt ein Schwimmbad, das seinen Besuchern auchWannen- und Brausebäder bot – ein enormer Komfort in einer Zeit, in der die wenigsten Haushalte über ein eigenes Badezimmer verfügten.
Die Radium-Werke hatten sich in zwischen von einem kleinen Pionier Betrieb des elektrischen Lichts zu einem bedeutenden Industrieunternehmen der Beleuchtungstechnologie entwickelt.
Bereits
1910
hatte Radiummit der chemischen Aufbereitung vonWolframerz im Chemielabor begonnen. Um die Lichtausbeute und damit die Lampenqualität zu steigern, musste eine höhere Betriebstemperatur der Glühfäden erreicht werden: etwa mit Wolfram, einem besonders schwer zu schmelzenden Metall. Die Fabrikation von Wolframdrähten übernahm seit
1912
die neu gegründete Bergische Drahtfabrik Ges.m.b.H. Bis zum ZweitenWeltkrieg baute Radium nicht nur das Glühlampenprogramm aus, sondern lieferte auch weltweit Wendelmaschinen an die Lampenindustrie. Die Präzision der gefertigten Maschinen und die Qualität desWolframdrahtes ließen das Unternehmen weiter wachsen.
In den 1930er Jahren stieg die Typen vielfalt der produzierten Lampen bei Radium: Hoch- und Niedervoltlampen, mattiert und verspiegelt, Infrarotlampen, Lichtwurf- und Kinolampen, Doppelwendel- und Einfachwendellampen, stoßfeste Lampen, Operationslampen, Signallampen für Hauhalt, Bergbau, Industrie, Reichsbahn und Schifffahrt.
1937
wurde deswegen ein neues Lager errichtet, in dem außerdem ein Festsaal, eine Druckerei sowie ein Luftschutzkeller untergebracht wurden. Auch diese Einrichtungen kamen der gesamten Stadt zugute, denn der Festsaal wurde nicht nur für Betriebsversammlungen und firmeninterne Veranstaltungen genutzt. Auch öffentliche Konzerte und Ausstellungen fanden hier statt. Ein besonderes musikalisches Erlebnis bot die eingebauteWelte-Philharmonie-Orgel, ein ausgefallenes Musikinstrument, das auch für Rundfunk- und Schallplattenaufnahmen genutzt wurde.
Im Stadtteil Wolfsiepen bauten sich Radium-Mitarbeiter in den
1930
er Jahren mit finanzieller Unterstützung der Radium-Werke Eigenheime. Zur gleichen Zeit entstand auf dem Betriebsgelände eineWerkstatt für den Bau von Segelflugzeugen. Im Oktober
1935Eugen_Kersting_Segelflugzeug
startete ein bei Radium hergestelltes Segelflugzeug zu seinem ersten 5-Stunden-flug. Für Mitarbeiter ohne luftige Ambitionen wurden Freizeitaktivitäten im Sportverein »VfR Radium« geboten. Der werkseigene Sportplatz Dreiböcken stand später auch dem VfR Wipperfürth zur Verfügung. Zudem schloss das Unternehmen Mitte der
1930
er Jahre einen Vertrag mit Wipperfürther Ärzten überlaufende Gesundheitskontrollen der Radium-Mitarbeiter ab. Der Betrieb richtete ein modern ausgestattetes Ärztezimmer für medizinische Untersuchungen ein. Wohnungen, Feuerwehr, Gesundheitsvorsorge, Freizeitgestaltung, Sport und Kultur – bei Radium zu arbeiten, bedeutete mehr als einen Arbeitsplatz.

Hilfe in Kriegs- und Mangeljahren

Radium_WerbungIm Februar
1945
kam der Bombenkrieg nachWipperfürth. VomRadium-Schornstein heulte die Sirene Fliegeralarm über die Dächer der Stadt. Radium-Mitarbeiter schoben Tag und Nacht Dienst im werkseigenen Luftschutzkeller, nicht nur für ihre Kollegen, sondern für alle Wipperfürther Bürger – der Luftschutzkeller der Radium-Werke war gleichzeitig die Luftschutzzentrale der Stadt. Im April dann die Befreiung: Amerikanische Truppen besetztenWipperfürth.
Die Radium-Werke wurden vorläufig geschlossen, die Lampenfabrikation ruhte drei Monate. Danach organisierten und überwachten englische und belgische Soldaten die Zuteilung von Lampen an öffentliche Bedarfsträger.Und sie kontrollierten bald auch die Taschen der Radium-Mitarbeiter am Werksausgang, führten sogar Leibesvisitationen durch.
Die im Krieg eingeführte Bewirtschaftung aller Konsumgüter wurde auch von den Besatzungsbehörden beibehalten. Doch die Zuteilung der auf den Lebensmittelkarten ausgewiesenen Rationen war oftmals nicht gesichert. Der Schwarzmarkt wurde in den erstenNachkriegsjahren zum überlebenswichtigen Faktor. Da Glühlampen von der offiziellen Zuteilung ausgeschlossen waren, avancierten sie bald zum begehrten Tauschobjekt. Trotz der umfangreichen Kontrollen gelangten täglich zahlreiche
Lampen auf illegalemWeg aus dem Werk: in verlängerten Hosentaschen oder umfrisierten Thermoskannen, ausgelegt mit Putzlappen, um verräterische Klirrgeräusche zu vermeiden.
Der Schwarzmarktwert einer einzigen Glühlampe überstieg den Tagesverdienst eines Radium-Mitarbeiters um einVielfaches: Kostete einWatt Lampenleistung rund eine Reichsmark, dann entsprach der durchschnittliche Monatslohn eines Radium-Arbeiters dem Schwarzmarktwert von zwei 60-Watt-Glühlampen. Doch schon ein halbes Pfund Butter oder eine Packung Zigaretten kostete umgerechnet eine 100-Watt-Glühlampe. Die Firmenleitung versuchte, diesen unhaltbaren Zustän den durch die Zuteilung von Deputatlampen für die Belegschaft zu begegnen.
In einemWerksladen bezahlten die Radium-Angestellten Lebensmittel, Textilien, Schuhe und andere bewirtschafteteWaren mit diesen Lampen. Lebenswichtige Güter konnten auf diese Weise legal erworben, der verbotene Schwarzmarkt vermieden werden.
In diesen Mangeljahren wurde viel improvisiert, auch bei den Radium-Werken: Im Luftschutzkeller betrieb ein Mitarbeiter eine Mühle, in der Bucheckern und Rapssamen zu Öl verarbeitet wurden. In der Elektro-Werkstatt keimte auf einer Zwischendecke Korn, das dann in selbst gebauten Destillationsapparaten zu Schnaps gebrannt wurde. In der Dunkelkammer war eine Waffelbäckerei eingerichtet, die Radium-Strom zum Betrieb nutzte – in Privatwohnungen wurde der Strom noch rationiert.
Anfang der
1950
er Jahre kehrte wieder Normalität ein, auch wenn durch den Krieg und die zahlreichen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen auch in Wipperfürth Wohnraum fehlte. Wieder wurden die Radium-Werke zum Bauherrn: an der Böcklerstraße entstanden 31 Werkswohnungen, auch den Bau von Eigentumswohnungen und Eigenheimen förderte das Unternehmen durch zinsfreie Darlehen.
Gemeinsammit seinen leitenden Mitarbeitern entwickelte Eugen Kersting Radium zu einem führenden Lampenwerk in Europa. Der »RadiumWolfram-Draht« war weit über die Grenzen Deutschlands bekannt. Neue Lichtwurflampen erhellten Kinos und Theater; speziell entwickelte Quecksilberdampf-Hochdrucklampen sorgten für wirtschaftliche Straßen- und Industriebeleuchtung. Ganz neueWege ging Radium in der Sportstättenbeleuchtung: Im Vergleich zur herkömmlichen Beleuchtung sorgten die bei Radium entwickelten Lampen und Leuchten für die vierfache Helligkeit in Stadien.

Als Eugen Kersting im Juli 1958 starb, setzten seine Mitarbeiter diese Tradition der Innovation fort, realisierten immer neue Ideen und trugen dadurch nicht
unwesentlich zum finanziellen Erbe von Antonie Kersting bei. Eugen Kersting hinterließ ein Lebenswerk, das von Arbeit, technischem Ideenreichtum und Einsatzfreude für hohe Qualitätsstandards, aber auch von einem großen sozialen Engagement geprägt war. Seine Witwe Antonie sollte diesem »Radium-Geist« durch ihr Testament eine neue Bestimmung geben.

Quelle: Leben am Sonnenweg (40 Jahre) – Geschichtsbüro